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Gericht: Finanzgericht Berlin
Beschluss verkündet am 15.11.2004
Aktenzeichen: 8 K 6331/01
Rechtsgebiete: EStG, FGO
Vorschriften:
EStG § 2 Abs. 3 | |
FGO § 74 |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob bei der Einkommensteuerveranlagung 1999 die von den Klägern im Streitjahr erzielten Verluste aus Gewerbebetrieb entgegen § 2 Abs. 3 Einkommensteuergesetz -EStG- in der im Streitjahr geltenden Fassung in voller Höhe mit den übrigen positiven Einkünften der Kläger auszugleichen sind. Die Kläger berufen sich auf Verfassungswidrigkeit dieser Vorschrift.
Der Beklagte glich bei der Veranlagung 1999 die Einkünfte der Kläger aus Vermietung und Verpachtung aus und verrechnete die danach verbleibenden positiven Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 515 326 DM nach Maßgabe des § 2 Abs. 3 EStG (a.F.) lediglich in Höhe von 364 921 DM mit dem ausgleichsfähigen Verlust aus Einkünften aus Gewerbebetrieb. Der Beklagte setzte dementsprechend bei einem zu versteuernden Einkommen von 137 023 DM die Einkommensteuer auf 34 872 DM fest.
Gegen diese Einkommensteuerfestsetzung haben sich die Kläger nach erfolglosem Einspruch mit der vorliegenden Klage gewandt, über die der Senat noch nicht entschieden hat.
Die Vollziehung des angefochtenen Bescheides hat das Finanzgericht mit Beschluss vom 04.03.2002 zum Aktenzeichen x x xxxxxxx auf Antrag der Kläger gem. § 69 Abs. 3 FGO ausgesetzt, weil der beschließende xx Senat die Verfassungsmäßigkeit von § 2 Abs. 3 EStG bei der Anwendung auf den Streitfall für ernstlich zweifelhaft hielt (Entscheidungen der Finanzgerichte -EFG- 2002, 597).
Die Beschwerde des Beklagten gegen diese Entscheidung hat der Bundesfinanzhof mit Beschluss vom x. März 2003 (Aktenzeichen xx x xxxxx, BStBl xx xxxx, xxx) als unbegründet zurückgewiesen, indem er entschieden hat, dass an der Verfassungsmäßigkeit des § 2 Abs. 3 Sätze 2 ff. EStG i. d. F. des StEntlG 1999/2000/2002 ernstliche Zweifel bestehen. Zumindest insoweit, als aufgrund des begrenzten Verlustausgleichs - hier zwischen negativen Einkünften aus Gewerbebetrieb und positiven Einkünften aus Vermietung und Verpachtung - eine Einkommensteuer auch dann festzusetzen ist, wenn dem Steuerpflichtigen von seinem im Veranlagungszeitraum Erworbenen nicht einmal das Existenzminimum verbleibt, sei die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift in Zweifel zu ziehen.
Beim Bundesfinanzhof ist derzeit zum Aktenzeichen xx x xxxxx ein weiteres Verfahren anhängig, in dem der Bundesfinanzhof darüber zu entscheiden hat, ob und ggf. inwieweit § 2 Abs. 3 EStG a.F. verfassungsgemäß ist. Es handelt sich um die Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 11. Februar 2000 (x x xxxxxxx x).
Mit Schreiben vom 15. Oktober 2004 hat das Gericht die Beteiligten gefragt, ob sie einem Ruhen des Verfahrens entsprechend § 74 FGO und den diesbezüglich anwendbaren zivilprozessrechtlichen Regelungen bis zur endgültigen Entscheidung über das beim BFH anhängige Verfahren zustimmen.
Mit Schriftsatz vom 3. November 2004 haben die Kläger ihre Zustimmung verweigert. Sie haben vorgetragen, laut telefonischer Auskunft der zuständigen Geschäftsstelle des XI. Senats des BFH sei das Verfahren xx x xxxxx bisher nicht dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt worden. Sie sähen einen erheblichen Nachteil drohen, wenn das Finanzgericht Berlin in der Sache so lange nicht entscheidet, bis ein anderer Fall zu der fraglichen Vorschrift beim Bundesverfassungsgericht beurteilt worden ist. Den vorliegenden Streitfall nach einem abschlägigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das zu einer anderen Sachverhaltsgestaltung ergangen ist, vor den Gerichten zu vertreten, sei ungleich schwieriger. Es erstaune die Kläger, dass das Gericht bei den selbst geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken, die vollumfänglich durch den BFH bestätigt worden seien, keinen kurzfristigen Handlungsbedarf sehe.
Gründe
Der beschließende Senat setzt daraufhin das vorliegende Verfahren gem. § 74 FGO aus. Er geht davon aus, dass im vorliegenden Fall die Anwendung des § 74 FGO dem Grunde nach in Betracht kommt.
Gemäß § 74 FGO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet, anordnen, dass das Verfahren bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen sei. Um ein Rechtsverhältnis im Sinne des § 74 FGO kann es sich auch handeln, wenn eine einzelne Rechtsfrage zu entscheiden ist, von der das Bestehen oder Nichtbestehen dieses Rechts oder dieser Pflicht abhängt. Das Recht bzw. die Pflicht kann das materielle oder das formelle Recht betreffen (Tipke / Kruse, AO/FGO Kommentar, 16. Aufl. § 74 FGO Tz.6 m.w.N.). Insbesondere kann das Gericht ein Verfahren gem. § 74 FGO dann aussetzen, wenn der Streitfall im Rahmen eines Musterprozesses unmittelbar die Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Regelung betrifft und die dementsprechende Streitfrage dem Bundesverfassungsgericht in einem Verfahren zur Entscheidung vorliegt, das eine gleichgelagerte verfassungsrechtliche Streitfrage betrifft. Das BVerfG-Musterverfahren darf nach Auffassung des Finanzgerichts zudem nicht offensichtlich aussichtslos sein. Damit soll u. a. verhindert werden, dass der Bundesfinanzhof bzw. das Bundesverfassungsgericht mit einer Vielzahl von gleichgelagerten Fällen überschwemmt würde, ohne dass dies der Klärung eines vorgreiflichen Problems dienen würde. Denn alle Prozessvorschriften dürfen und müssen, zumal in Anbetracht der Überlastung der Gerichte, im Rahmen zulässiger Rechtsanwendungsmethode so aufgefasst werden, dass der Prozessökonomie gedient wird (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 74 FGO Tz. 19 m. w. N.).
Bei der nach § 74 FGO zu treffenden Entscheidung des Finanzgerichts handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, die sich am Gesetzeszweck orientieren muss Das Gericht muss bei seiner Entscheidung prozessökonomische Gesichtspunkte einerseits und die Interessen der Beteiligten andererseits gegeneinander abwägen (BFH-Urteil vom 18.7.1990 I R 12/90 BStBl II 1990, 986).
Der Senat übt sein Ermessen im Streitfall dahingehend aus, dass er das vorliegende Klageverfahren gemäß § 74 FGO aussetzt und lässt sich dabei von folgenden Erwägungen leiten:
Eine Aussetzung gem. § 74 FGO ist nach Überzeugung des Gerichts auch zulässig und geboten, wenn ein verfassungsrechtliches Musterverfahren beim BFH, aber (noch) nicht beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist. Denn da die Aussetzung wegen eines Musterverfahrens beim BVerfG im Rahmen des § 74 FGO zulässig ist, wäre es inkonsequent, diese nur deshalb auszuschließen, weil das Verfahren (noch) (nur) beim BFH anhängig ist (so auch Tipke/Kruse, a.a.O., § 74 FGO Tz. 21 m. w. N.). Ein solches Musterverfahren ist für das auszusetzende Verfahren im Sinne des § 74 FGO nämlich ebenso vorgreiflich wie ein beim Bundesverfassungsgericht schwebendes Verfahren. Denn es genügt, dass das andere Verfahren irgendwie für die Entscheidung erheblich ist (vgl. BFH v. 18. Juli 1990, a.a.O.), d.h., dass es irgendeinen rechtlichen Einfluss auf das auszusetzende Verfahren hat (vgl. auch: BFH-Beschluss vom 21. August 1986 VI B 91/85, BFH/NV 1987, 43). Das gilt, zumal es nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung bei der Anwendung des § 74 FGO auf die normative Kraft der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht ankommen soll ( vgl. BFH-Urteil vom 18. Juli 1990, Aktenzeichen I R 12/90, BStBl 90, 986). Dass den Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bindungswirkung nur für den entschiedenen Einzelfall zukommt und ihnen deshalb nur die "normative Kraft des Faktischen" zuzubilligen ist, ist deshalb in den fraglichen Fällen für die Zulässigkeit einer Aussetzung gem. § 74 FGO nicht maßgeblich.
Die bisher ergangene einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung (vgl. BFH vom 22. Juni 2001 XI B 18/00, BFH/NV 2001, 1588 m.w.N.) lehnt allerdings eine Verpflichtung der Finanzgerichte zur Aussetzung gem. § 74 FGO im Wege der Ermessensreduzierung auf Null ab und gibt damit einem diesbezüglichen Antrag der jeweiligen Kläger nicht statt, wenn die entsprechenden Verfahren nicht beim Bundesverfassungsgericht, sondern beim Bundesfinanzhof anhängig sind. Eine Aussetzung gem. § 74 FGO hätte in diesen entschiedenen Fällen auch nicht der Prozessökonomie entsprochen, da mit einer Entscheidung gegen die Verfassungsmäßigkeit der in Frage stehenden Normen nicht zu rechnen war.
Diese Rechtsprechung steht aber der Entscheidung des beschließenden Senats nicht entgegen. Denn im Streitfall braucht das Gericht nicht zu prüfen, ob eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt mit der Folge einer Verpflichtung des Finanzgerichts zur Aussetzung gem. § 74 FGO. Allein entscheidend ist vielmehr, ob das Finanzgericht im Hinblick auf ein beim BFH schwebendes Musterverfahren aussetzen darf, wenn es die Aussetzung für zweckmäßig hält und im übrigen die Voraussetzungen vorliegen. Diese Frage ist nach Auffassung des beschließenden Senats zu bejahen.
Das derzeit (noch) nur beim BFH anhängige Verfahren XI x xxxxx ist ein Musterverfahren zu der Frage, ob und inwieweit die in § 2 Abs. 3 EStG (in der 1999 bis 2002 geltenden Fassung) normierte Verlustabzugsbeschränkung verfassungsgemäß ist. Der BFH hat in diesem Verfahren insbesondere u.a. auch darüber zu entscheiden, ob § 2 Abs. 3 EStG in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes1999/2000/2002 bereits insoweit gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, verstößt, als dem Steuerpflichtigen von seinem im Veranlagungszeitraum Erworbenen nach Abzug tatsächlich geflossener steuerlicher Aufwendungen weniger als das Existenzminimum verbleibt. (Allein) diese Frage ist auch die Streitfrage des vorliegenden Falles. Nach den oben dargestellten Grundsätzen ist das Verfahren XI x xxxxx folglich vorgreiflich für den Streitfall im Sinne des § 74 FGO.
Das Gericht geht darüber hinaus davon aus, dass der Bundesfinanzhof den dort anhängigen Fall XI x xxxxx dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 GG zur Entscheidung der verfassungsrechtlichen Problematik vorlegen wird. Denn aus den überzeugenden Gründen seiner ADV-Entscheidung im vorliegenden Fall, mit denen er erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der hier vom Beklagten angewandten Norm des § 2 Abs. 3 EStG darlegt, lässt sich darauf schließen, dass er diese zumindest bezüglich der vom Gesetzgeber nicht beachteten Sicherstellung des Existenzminimums für verfassungswidrig hält. Ein Vorlagebeschluss ist dementsprechend zu erwarten. Das entspricht auch den den Klägern bereits mitgeteilten Informationen des Gerichts. Eine Klärung der für die Entscheidung des Streitfalls erheblichen verfassungsrechtlichen Streitfrage wird demnach in absehbarer Zeit eintreten.
Eine Aussetzung des vorliegenden Verfahrens gem. § 74 FGO gereicht den Klägern auch nicht zum Nachteil, sondern entspricht prozessökonomischen Erwägungen. Eine Beschleunigung des gesamten Verfahrens wird durch die beschlossene Aussetzung nach Überzeugung des Gerichts nicht verhindert. Dagegen würde eine Entscheidung des Finanzgerichts im derzeitigen Zeitpunkt aber im Ergebnis zu einer zusätzlichen Belastung der Justiz führen, ohne dass damit irgendein Vorteil für die Kläger oder die Rechtspflege verbunden wäre. Diese Mehrbelastung vermeidet das Gericht durch Aussetzung des Verfahrens entsprechend § 74 FGO.
Angesichts der Bedeutung der erwarteten verfassungsrechtlichen Entscheidungen für die weitere Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs sowie der Finanzgerichte in einer Vielzahl von Verfahren hält es der Senat nach allem für gerechtfertigt und geboten, wie im Falle anhängiger Musterprozesse vor dem Bundesverfassungsgericht auch im Streitfall eine Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des Bundesfinanzhofs gem. § 74 FGO zu beschließen.
Ende der Entscheidung
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